Ideologische Zersplitterung und Konsensunfähigkeit

Post-It mit Herz auf einem RolladenWir sind heute ideologischer, als es Manche von uns wahrhaben wollen. Unsere politischen Vorväter wären entweder stolz oder schockiert. Gleichgültig wären sie sicher nicht. Doch wie sehen unsere Ideologien aus? Kommunismus oder Kapitalismus sind es in der Regel nicht mehr. Und auch nur wenige Spezialisten begeben sich genüsslich in die Abgrenzungsniederungen zwischen Stalinismus und Sozialismus. Das wirkt heute alles irgendwie altmodisch. Mindestens 90er.

Wir leisten uns vielmehr jede Menge Einzel- und Kleinstideologien. Wobei ich Ideologie schon als absolute Weltanschauung verstehe, wenngleich diese immer kleinteiliger wird, weil wir unsere Welt auch immer differenzierter wahrnehmen. Wo wir heute ganz schnell ideologisch werden, hätten unsere Großeltern wahrscheinlich gesagt: Das ist doch egal.

Im Deutschen Bundestag gibt es zum Beispiel den allgegenwärtigen Vorwurf, dass der politische Gegner schon ziemlich blöd – Entschuldigung, das war unparlamentarisch – beratungsresistent sein muss, wenn er oder sie auch nach mehrmaligem Vortragen der gegenteiligen Auffassung immer noch nicht zur Erkenntnis kommt, dass er oder sie sein Leben lang falsch lag. Das muss man doch irgendwann einmal einsehen! Und da geht es thematisch von der Praxisgebühr bis zur Mini-Job-Regelung.

Ideologie pur. Vermeintliche Sachargumente sind da nur noch Vehikel. Es geht ums große Ganze. Den geistig-moralischen Überbau. Und da gibt es nur eine Wahrheit.

Im Alltag ist es genauso. Wir neigen zur Überdramatisierung des Alltäglichen. Überall schlägt uns ideologisches Klein-Klein entgegen. Der Kauf einer Tiefkühlpizza kann in einigen Kreisen zur sozialen Ausgrenzung führen. Die Art und Weise der Kindererziehung wird wahlweise zum philosophischen Hauptseminar oder dem Niedergang der Zukunftsfähigkeit überspitzt. Und – oh je, oh je – wie kann man denn heute noch ein Auto kaufen wollen oder gar als Hobby die Begeisterung für automobile Höchstleistungen angeben. Das ist doch unverantwortlich! Oder zumindest unheimlich egoistisch.

Mir geht es hier gar nicht um Gut-Menschen, auch wenn ich mit diesem Teil der Bevölkerung wahrscheinlich am häufigsten aneinander gerate. Mir geht es um diese Kleinst-Ideologien, die in schönster Strategie des Kalten Krieges davon ausgehen, dass man Gegner ist, wenn man nicht ins selbe Horn stößt. Nur mal ein paar Schlagworte: Kindererziehung, Bio-Essen und Energiepolitik. Sachliche Auseinandersetzung? Vergessen Sie es.

Was uns immer mehr fehlt, ist der Wille zum Ausgleich. Getrieben von der erlebten Zuspitzung im täglich konsumierten politischen Betrieb, meinen wir zu erkennen, dass nur klare Kante weiter bringt. Ja oder nein. Dazwischen gibt es nichts. Debatte? Wird reduziert auf die Darstellung der Positionen. Ergebnisse und Gewinner? Es kann nur einen geben.

Doch das ist nicht nur ein Problem der politisch Aktiven. Es schlägt durch bis in die untersten Ebenen und kleinsten Strukturen. Ausgleich ist nicht vorgesehen. Dass eine erfolgreiche Debatte eigentlich davon abhängt, dass die Beteiligten auf einander zugehen, ist kaum noch erlebbar.

Wer sich heute beteiligt, will im Grunde nicht diskutieren, um zu einer Lösung zu gelangen. Es geht vielmehr darum, die eigene Vorstellung durchzubringen. Konsens? Vergiss es! Ich bin hier, ich bin laut, weil man mir die Meinung klaut! Flugrouten, Bahnhofsneubauten und Windparks. Alles taugt zur ideologischen Überhöhung und damit zum emotionalen und existentiellen Kampf um Gut und Böse.

Fahren Sie mal nach Ostbrandenburg. In vielen Dörfern stehen gelbe Holzkreuze in den Gärten, die an Gorleben erinnern. Diese Kreuze stehen dort aber nicht, um ein atomares Endlager zu verhindern. Die erstaunlich zahlreichen und einheitlich produzierten gelbhölzernen Ablehnungssymbole fanden ihren Weg in die Mark, um unterirdische CO-2-Lagerstätten zu verhindern, weil die so gefährlich seien. Dass viele der Holzkreuze ganz nah beim privaten Öltank stehen, wird nicht einmal als Widerspruch wahrgenommen.

Es gilt das St-Florian-Prinzip:  Heiliger St. Florian, verschon mein Haus, zünd andere an.

Auf solchen Grundlagen debattieren wir heute über unsere Zukunft. Vom Dorfbeirat bis zum Deutschen Bundestag. Dass die dann am Ende einer vermeintlichen Debatte ausgehandelten Kompromisse mittlerweile immer öfter von beiden Seiten als Niederlage wahrgenommen werden, ist traurig aber leider das folgerichtige Grundproblem unserer Debattenkultur. Der Anspruch zur besten Lösung weicht dem Wunsch, endlich einen Schlussstrich zu ziehen.

Hier müssen wir neu denken. Wer fängt an?

4 Gedanken zu „Ideologische Zersplitterung und Konsensunfähigkeit

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  3. Stefan Wehmeier

    Die Lösung der Sozialen Frage ist heute in rein technischer Hinsicht relativ einfach. Die Schwierigkeit besteht allein in der Überwindung einer künstlichen Programmierung des kollektiv Unbewussten (selektive geistige Blindheit gegenüber makroökonomischen Konstruktionsfehlern), die vor Urzeiten erforderlich war, um den Kulturmenschen im wahrsten Sinn des Wortes „wahnsinnig genug“ für die Geldbenutzung zu machen, lange bevor diese seitdem grundlegendste zwischenmenschliche Beziehung wissenschaftlich erforscht war. Anderenfalls hätte das, was wir heute „moderne Zivilisation“ nennen, gar nicht erst entstehen können. Denn kein vernünftiger (nicht programmierter) Mensch wäre dazu bereit, in einer a priori fehlerhaften Marktwirtschaft zu arbeiten, wenn er weiß, dass ein nachhaltiges Wirtschaften unmöglich und der nächste Krieg – zwecks umfassender Sachkapitalzerstörung, um den Zinsfuß hochzuhalten – unvermeidlich ist. Doch der Krieg konnte nur solange der Vater aller Dinge sein, wie es noch keine Atomwaffen gab!

    Die gegenwärtige „Finanzkrise“ ist keine gewöhnliche Konjunkturschwankung, sondern führt entweder zurück in die Steinzeit oder – was wahrscheinlicher ist – zum eigentlichen Beginn der menschlichen Zivilisation. Dazu muss die reale Angst vor der bevorstehenden, größten anzunehmenden Katastrophe der Weltkulturgeschichte (globale Liquiditätsfalle nach J. M. Keynes, klassisch Armageddon) insgesamt größer werden als die seit Urzeiten eingebildete Angst vor dem „Verlust“ der Religion:

    http://www.swupload.com//data/3-Verwandlungen.pdf

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  4. Jens Best

    Ich würde nicht gleich mit dem durchaus verführerischen Wort „Kleinstideologien“ kokettieren, aber im demokratisch geführten Wettstreit um die partiell führenden Vorstellungen von Wahrheit (verstanden als Grundlage für gutes Handeln) haben wir desöfteren eine ungewohnt kompromissfreie Haltung, die eine dialogbasierte Lösung weniger erreichbar macht.
    Lässt man außenvor, dass dialogbasierte Lösungen sowieso nur scheinbar besser sind, führen sie doch häufig zu einer Aufrüstung der Lobbytätigkeiten statt zu wirklich ebenbürtigem Dialog unter den Bürgern, ist die Frage berechtigt, ob diese Dialogbasiertheit die einzige Lösung ist in einer informationsangereicherten Entscheidungsumgebung (aka Staat).
    Ich will hiermit keineswegs einer Neuauflage von Basta-Politik noch der Fortsetzung der Merkelschen Durchsetzung durch Schweigen das Wort reden, aber durchaus fragen, ob das von Claus beschriebene Problem nicht auch seine Grundlage hat in dem undemokratischen „Nichtmehrhinnehmens“ von Entscheidungen trotz geteilter Informationslage.
    Will sagen: Nicht neue Ideologien, sondern persönliche Engstirnigkeiten in einer Gesellschaft, die eine übersteigerte Bedeutung der Individualität wie eine Monstranz vor sich herträgt, könnten der Kern des Problems sein.
    Es geht also nicht um die „Innenansichten“ der beteilligten Individuen, sondern um deren Form der Interaktion.
    Clay Shirky hat dazu vor einigen Tagen ein schönes Essay geschrieben: „‘We are indeed less willing to agree on what constitutes truth’

    http://www.poynter.org/latest-news/everyday-ethics/191757/shirky-we-are-indeed-less-willing-to-agree-on-what-constitutes-truth/

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